Pageturner – März 2025: Denken hilftLiteratur von Klaus Dörre, Armin Nassehi und Konfuzius
3.3.2025 • Kultur – Text: Frank Eckert
Die Soziologen Klaus Dörre und Armin Nassehi setzen sich in „Die Utopie des Sozialismus“ und „Kritik der großen Geste“ mit Gesellschaftsordnungen einerseits und den Möglichkeiten des Wandels andererseits auseinander. Das ist keine neue Debatte, aber eine, die nie an Dringlichkeit verlieren wird. Und weil Debatten oft genug mit Sprüchen und Sagern geführt werden, hat Pageturner Frank Eckert auch die Hans-va-Ess-Übersetzung von Konfuzius’ „Gespräche“ gelesen – als kontemplative Anleitung zum Flanieren. Durch eine Welt, die mehr Denken gut vertragen kann.

Die Utopie des Sozialismus (Affiliate-Link)
Klaus Dörre – Die Utopie des Sozialismus (Matthes & Seitz, 2021)
Die gute alte Frage „Was tun?“ stellt sich anhand der rasanten Vervielfältigung der Probleme durch den Klimawandel akuter denn je. Und gar nicht so Wenige setzen plötzlich wieder auf das nahende Ende des Kapitalismus. Die radikalen Optimisten auf den kommenden Sozialismus und die anderen auf, tja, etwas anderes, Apokalyptischeres. Gemeinsam ist ihnen der Zweifel daran, dass sich die globalen Probleme mit und im aktuell verbreiteten liberal-demokratischen kapitalistischen System lösen lassen. Auch beim Jenaer Soziologen Klaus Dörre ist dieser Zweifel an den Fähigkeiten des Kapitalismus auch diesmal eine Lösung zu finden die grundlegende Motivation, andere, demokratische und sozialistische Lösungsansätze zu suchen.
Anders als die meisten seiner Zunft hat Dörre einerseits die Regenerations- und Neuerfindungskraft des Kapitalismus klar im Auge, wenn er argumentiert. Andererseits verabscheut er linke Militanz und sieht die autoritären zentralistischen Tendenzen des Marxismus nach Engels als seine größte und fundamentalste Schwäche an. Vor allem den „wissenschaftlichen“ Sozialismus als heilbringende Doktrin, die nur noch von einer Bürokratie umgesetzt werden müsste. Aber auch anarchistische Tendenzen führen ins Nichts, genauso wie die dürren Hoffnungen, der (neoliberale) Kapitalismus würde jetzt endlich doch mal an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde gehen. Was die Chancen angeht, alte Ideen von Real- oder Ideal-Sozialismus wieder zu beleben, ist Dörre realistisch bis resigniert. Die Ökobilanz der Sowjetunion war so miserabel wie die von Hugo Chavez. Nicht, dass es im Westen besser gelaufen wäre. Was es also bräuchte, wäre ein nachhaltiger ökologischer Neo-Sozialismus (Neo wie in Neo-Soul, wie SAULT zu Aretha). Ein solcher würde nicht beim Konsum ansetzen. Individueller Verzicht nützt wenig und schadet womöglich denen, die sowieso am meisten vom Klimawandel betroffen sind: den Ärmsten. Es genügt ebenso wenig, mit der kritischen Theorie das Falsche aufzuzeigen, um im Register des Richtigen zu spielen. Die Demokratisierung muss bereits bei der Produktion eingreifen. Den SUV gar nicht erst herstellen, anstatt ihn aus Umweltgewissensgründen nicht kaufen zu wollen. Doch die Postwachstumsgesellschaft passiert definitiv nicht von alleine. Hier sieht Dörre auch eine Schwäche linker Hegemonie-Theorien, die auf den Sozialismus als Selbstläufer setzen. So bildet das Fundament des vorgeschlagenen Neo-Sozialismus eben kein Katalog luftiger Maximalforderungen, sondern ganz konkret die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen. Sozialistisch daran sind nicht unbedingt die Inhalte dieser 17 Punkte der UN, sondern das Wie und Wann (wenn nicht jetzt) ihrer Umsetzung.
Wenig frohe Hoffnung und viel Realismus also, aber doch von einem Hauch von Utopie umweht. Die konkreten Aktionsvorschläge sind denn auch weitgehend bekannt und mehr oder minder radikal: vom bedingungslosen Grundeinkommen und Tobin-Steuer über (Re-)Kommunalisierung von Infrastruktur zu De-Privatisierung und Enteignung schadbringender Industrien (wie FinTech) durch „Klimaräte“. Letztlich ist es der schon länger vorgeschlagene „Green New Deal“ abzüglich dessen binnenkapitalistischem Lösungsansatz. Wer das allerdings anpacken soll und wie, bleibt gezwungenermaßen vage. Wie Dörre selbst kristallklar feststellt, mangelt es keineswegs an Ideen und Konzepten, die Welt zu retten. Was fehlt ist der politische Wille, das Wünschenswerte auf Praxistauglichkeit und Durchsetzbarkeit zu prüfen – und es dann einfach zu tun. Wo dieser Wille herkommen soll, wie er eine solide Mehrheit gewinnen könnte, das bleibt offen.

Kritik der großen Geste (Affiliate-Link)
Armin Nassehi – Kritik der großen Geste (C.H.Beck, 2024)
Gesellschaften, soziale Systeme ganz allgemein, sind komplex; fast immer komplexer, als wir denken. So das nimmermüde Mantra der Soziologie der vergangenen Dekaden. Der in München lehrende Soziologe Armin Nassehi würde gerne hinzufügen: Sie sind auch träge, neigen zur Selbsterhaltung und sind fast immer stabiler und persistenter als wir glauben. Was im Guten für Resistenz und Resilienz bei Angriffen auf ihre Struktur sorgt, Stichworte etwa Populismus und „Demokratiemüdigkeit“. Im Schlechten aber erhält es eben alte Übel über lange Phasen hinweg am Leben, verhindert Erneuerung und erschwert notwendige Transformationen, Stichworte etwa Klimawandel und Antisemitismus. Praktische Änderungen funktionieren nur mit dem System. Grandiose Pläne, die den Status Quo ignorieren, sind zum Scheitern verurteilt, realer „change“, echte Transformationen sind lokal, partiell kleinteilig, nie nicht mühsam und praktisch immer mit Zumutungen verbunden. Das ist keine besonders originelle oder radikale Erkenntnis, aber als Grundlage für Handlungen und Verhandlungen dennoch nicht gerade beliebt in Politik und Gesellschaft.
Maxmimalforderungen aller Art, großspurige Disruptionsfantasien oder die nicht weniger großspurige Fundamentalkritik am Kapitalismus bilden für Nassehi daher wohlfeile und ultimativ folgenlose Ablenkungen von den eigentlichen Problemen, selbstberuhigende Mantren, die verhindern, dass sich irgendwo wirklich etwas bewegt. Sein von Soziologieslang weitgehend freier Essay „Kritik der großen Geste“ plädiert eindringlich dafür, diese Trägheit der Systeme im Blick zu behalten und jeglichen sozialpolitischen Wandel schon in der Zielgebung und in der Planung mit „Kontinuitätserfahrungen“ zu versehen um eine Verwirklichung nicht von vornherein schon zu sabotieren. Die Expertise für lokale und spezifische Lösung ist da, sie ist gerade in einem Land wie Deutschland sogar immens. Sie nicht zu nutzen, wäre dumm und gefährlich.

Gespräche (Affiliate-Link)
Konfuzius – Gespräche (C.H. Beck, 2023. Übersetzung: Hans van Ess)
Konfuzius lesen, um China zu verstehen. Kann man machen, das hat Sinn und Nutzwert. Mehr Freude macht es allerdings, die „Gespräche“ als Selbstzweck zu lesen, kontemplativ durch die Aphorismen und Gedankensprünge zu flanieren. Die neue Direktübersetzung des renommierten Münchner Sinologen Hans van Ess bietet dazu eine exzellenten Anlass. Die ausgiebig kommentierte und dokumentierte Übersetzung (Verhältnis von Originaltext zu Anmerkungen circa 1:10) gibt jedem der Sprüche historischen Kontext, gibt einen Überblick über die Interpretationsgeschichte und arbeitet die großen Zusammenhänge und Denklinien heraus, die in der Einzelbetrachtung eventuell verloren gehen.
Van Ess macht klar, dass es sich um einen geschlossenen, genau geplanten Text mit pädagogischer Absicht handelt. Auch wenn die einzelnen Gespräche mit Schülern und Fürsten, Gegnern und Gleichgesinnten wie zusammenhanglose Sinnsprüche lesbar sind und so mancher Spruch tatsächlich immer noch zum Bonmot taugt: Sie sind es nicht. Die drei Hauptbegriffe dieses Denksystems sind „ren“, „de“ und „li“: Sensibilität im Umgang mit Anderen, Haltung und Charakterstärke, also „Persönlichkeit“, sowie Anstand und Zivilisiertheit, Respekt gegenüber Sitten und Gebräuchen. Allein die skrupulöse Wortwahl macht aus Konfuzius schon einen Anderen als den patriarchalen „Meister“ des Konfuzianismus späterer Jahrhunderte, zu etwas deutlich Interessanterem als den Konfuzius der Regeln, der Obrigkeitshörigkeit und Autoritätsgläubigkeit, als der er im Westen noch immer gerne gelesen wird. Daher bitte Konfuzius als Selbstzweck lesen, aber mit Kontext.